Maurice Ravel: "Ma mère l’oye" | BR-Klassik (2025)

Inhalt

Maurice Ravel"Ma mère l’oye"

15.10.2024 von Florian Heurich

    Ursprünglich war es ein vierhändiges Klavierwerk, das Maurice Ravel für den Sohn und die Tochter von Freunden komponiert hatte – inspiriert von Charles Perraults Märchensammlung "Meine Mutter, die Gans". Als es soweit war, trauten sich die beiden Kinder die Uraufführung jedoch nicht zu. Ganz so einfach und klein war "Ma mère l’oye" dann doch nicht. Aus dem Klavierstück wurde später ein Orchesterwerk und sogar ein Ballett. Florian Heurich hat sich mit dem Dirigenten Yannick Nézet-Séguin über das Werk unterhalten - und über die Kindeseele, die man als Erwachsener für diese Musik braucht.

    Bildquelle: Wikimedia Commons / Public Domain

    Das Starke Stück

    Maurice Ravel: "Ma mère l'oye"

    "Dornröschen", "Der kleine Däumling, "Die Kaiserin von den Pagoden" und "Die Schöne und das Biest". Das sind die Figuren aus Charles Perraults Märchensammlung, die Ravel lebendig werden lässt, und die schließlich in einem farbenprächtigen Feengarten das große Finale von "Ma mère l'oye" zelebrieren. Ein Stück für Kinder? Ja! Weil Ravel die ursprüngliche Klavierversion für die Kinder von Freunden komponiert hatte. Eine Miniatur? Auch! Weil der große Gestus dem intimen Detail weicht. Aber dennoch ein Stück mit Tücken, voller Raffinesse. Eine gewisse Naivität wird, wie oft bei Ravel, zum Stilprinzip.

    Die Tücke des Details

    "Ich liebe dieses Stück sehr und habe es schon oft dirigiert, aber ich finde es immer sehr schwierig", sagt der Dirigent Yannick Nézet-Séguin. "Man kann es nämlich nicht einfach nur schnell lesen, dann einmal spielen und sagen: ja, so passt das schon. Und andererseits ist es auch gefährlich, dass man zu intellektuell wird. In diesem Stück gibt es eine Falle: Alles ist nämlich extrem raffiniert und genau. Und wenn man all diese Details zu präzise interpretiert, wird es etwas hochgestochen, also etwas zu erwachsen. Damit würde man den natürlichen und ganz unmittelbaren Geist dieses Werks zerstören. Andererseits, wenn man nur an der Oberfläche bleibt und es zu leicht nimmt, übergeht man sämtliche Details."

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    Die Titel helfen uns, um direkt in eine bestimmte Welt einzutauchen.

    Yannick Nézet-Séguin

    Maurice Ravel: "Ma mère l’oye" | BR-Klassik (1)Yannick Nézet-Séguin | Bildquelle: Marco BorggreveFür jedes der Märchen entwirft Ravel eine eigene Klangwelt. Die "Belle au bois dormant", also Dornröschen schläft hinter ihrer Dornenhecke zu einer träumerischen Pavane, die ferne Zeiten heraufbeschwört. "Petit Poucet", der kleine Däumling, läuft durch die Natur. Und "Laideronette", die kleine hässliche Kaiserin, lebt unverkennbar im Orient. "Mir kommen sofort viele optische Eindrücke, weil es in der französischen Musik immer um Farben und Bilder geht", erklärt Nézet-Séguin. "Und auch die Titel helfen uns, um direkt in eine bestimmte Welt einzutauchen. In 'Ma mère l'oye' ist die Pavane ganz einfach, mit ganz sparsamen Mitteln. Es gibt nur sehr wenige Noten und nur zwei oder höchstens drei Stimmen gleichzeitig. Das erinnert ein bisschen an Ravels andere Pavane, die 'Pavane pour une infante défunte'. Und der Orientalismus, der bei Ravel manchmal sehr opulent ist – zwar nicht wie Puccini, aber ein bisschen in diese Richtung – kommt hier nur ganz dezent durch die Orchestrierung zum Ausdruck. Durch einige wenige Instrumente wird eine ganz unmittelbare Farbe kreiert, die uns in einen anderen Teil der Welt versetzt. Ich denke, der Satz, der am meisten Märchen ist in einem narrativen Sinn, ist der vierte: das Gespräch zwischen der Schönen und dem Biest. Die Geschichte ist ganz klar: die Klarinette steht für die Schöne, das Kontrafagott für das Biest. Und dann kommt diese berühmte Verwandlung des Biests in einen Prinzen mit diesem großen Harfenglissando und mit dem Violinsolo, welches dasselbe Thema von vorher aufnimmt, nun aber in seiner ganzen prinzenhaften Schönheit."

    Extreme Register in der Höhe und der Tiefe

    Vor dieser Metamorphose jedoch mischen sich die knarzenden Worte des Untiers in den sanften Walzerrhythmus der Schönen. Yannick Nézet-Séguin beschäftigt sich mit Ravels "Ma mère l'oye" schon seit langer Zeit: "Für mich als Pianist ist dieses Werk sehr interessant, da ich es sehr oft am Klavier gespielt habe, noch bevor ich die Orchesterfassung dirigiert habe. Und ich spiele es immer noch ab und zu. Schon in der Klavierfassung verwendet Ravel ganz extreme Register in der Höhe und in der Tiefe um diesen Effekt einer Orchestrierung zu erzielen. Und als er schließlich das Stück instrumentierte, war der Schlüssel des Ganzen schon in der Musik vorhanden. Er hat beispielsweise nur noch ein Glockenspiel oder hier und da ein Becken hinzugefügt, und das ganze Bild war komplett."

    Erwachsener mit Kinderseele

    Maurice Ravel: "Ma mère l’oye" | BR-Klassik (2)Maurice Ravel am Klavier | Bildquelle: picture-alliance/dpaImpressionistisches Klanggemälde und detailverliebte Märchenerzählung – "Ma mère l'oye" ist beides. Und immer steckt in Ravel eine Kinderseele, bestätigt Yannick Nézet-Séguin: "Der vielleicht wichtigste Aspekt bei Ravel ist mir bewusst geworden, als ich sein Haus in Montfort-l'Amaury besucht habe. In diesem Haus hat er selbst alle Papiere bemalt, die an den Wänden hängen. Und alles ist in Miniatur, alles ist klein, alles ist fein. Jedes Detail ist wichtig und sehr winzig. Auf den Möbeln stehen Figürchen von kleinen Menschen und Tieren, alles en miniature. Ein bisschen wie in seiner Oper 'L'enfant et les sortilèges'. Diese Liebe zum Detail und zur Kindheit, dieser Blick eines Erwachsenen auf die Kindheit ist etwas, das mich bei Ravel sehr berührt."

    So natürlich wie möglich

    Und genau diese Mischung aus Wissen und Naivität legt Yannick Nézet- Séguin auch in sein Dirigat von "Ma mére l'oye": "Wie immer in der französischen Musik darf man keinen Schritt überspringen. Man muss am Anfang sehr genau den Notentext verstehen. Man muss genau hinhören, was sich in der Musik abspielt, die Harmonien erfassen, die subtilen Veränderungen der Noten erkennen, durch die sich plötzlich auch der Klang ändert. Und danach muss man all das leben lassen, so natürlich wie möglich, damit eine unschuldige und einfache Poesie entsteht, wie bei einem Kind. Das aber mit der ganzen Kenntnis und Erfahrung eines Erwachsenen."

    Musik-Info

    Maurice Ravel:
    "Ma mère l’oye"

    Rotterdam Philharmonic Orchestra
    Leitung: Yannick Nézet-Séguin

    Label: EMI Classics

    Sendung:"Das starke Stück" am 15. Oktober 2024, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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